#Siggenthesen

Siggener Thesen zum wissenschaftlichen Publizieren im digitalen Zeitalter

Das digitale Publizieren ermöglicht bessere Arbeits- und Erkenntnisprozesse in der Wissenschaft. Diese Potenziale werden aus strukturellen Gründen gegenwärtig noch viel zu sehr blockiert. Wir möchten, dass sich das ändert, und stellen deswegen die folgenden Thesen zur Diskussion (Hinweise zur Mitunterzeichnung am Ende):

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Digitales Publizieren braucht verlässliche Strukturen statt befristeter Projekte. #Siggenthesen #1

Innovationen im Bereich digitaler Publikationsformate in der Wissenschaft, die in Pilot- und Inselprojekten entwickelt werden, bedürfen einer gesicherten Überführung in dauerhaft angelegte, institutionen- und disziplinenübergreifende Infrastrukturen, um im Sinne der Wissenschaftsgemeinschaft nachhaltige und wettbewerbsfähige Angebote liefern zu können. Wir rufen sowohl Fördereinrichtungen und politische Instanzen als auch Verlage und Bibliotheken auf, sich dieser Verantwortung zu stellen und entsprechende Förder- und Integrationskonzepte im bestehenden Wissenschaftsbetrieb konkret und umgehend umzusetzen. Eine systemische Veränderung hin zum digitalen Publizieren kann nur durch ein verlässliches Angebot exzellenter Dienstleistungen erreicht werden.

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Die traditionellen Großverlage behindern strukturell unsere offene Wissenschaftskommunikation. #Siggenthesen #2

Wissenschaftliche Publikationen sind Teil eines ökonomischen Wertschöpfungsprozesses, den vor allem große Verlage zur Kapitalsteigerung nutzen. Wir sehen allerdings, dass eine digitale Publikationskultur jenseits einer reinen Orientierung an Gewinnspannen aufgebaut werden kann, denn der Wissenschaftsbetrieb schafft selbst durch offene Lizenzierungen Räume für eine freie Zirkulation von Forschungsergebnissen. Die Zuschreibung von Reputation über Publikationsorte und Verlagsnamen, die Einschränkung von Sichtbarkeit durch Adressierung von kleinsten Expertenkreisen und das Beharren auf gewinnorientierten Verwertungsmechanismen, in denen wissenschaftliche Kommunikation sowie wissenschaftlicher Fortschritt zur Ware wird, stehen zur Disposition. Sie müssen, wenn sie den Zielen einer freien und offenen Wissenschaftskultur im Wege stehen, neu ausgehandelt werden – auch wenn dafür ökonomische oder statusbezogene Risiken für die beteiligten Akteure entstehen.

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Wir publizieren Open Access, um zu kommunizieren. Langzeitverfügbarkeit ist ein nachrangiges (weitgehend gelöstes) Problem. #Siggenthesen #3

Ein oft geäußerter Einwand gegen Open Access ist die angebliche Flüchtigkeit des digitalen Mediums im Vergleich zu gedruckten Büchern. Dabei wird übersehen, dass auch für Druckschriften das Problem der Langzeitverfügbarkeit virulent ist. Diese Frage darf daher nicht überbetont werden. Vielmehr weisen wir auf die Vorteile digitaler Inhalte als Kommunikationsmittel hin: Digitale Veröffentlichungen, die anerkannte und standardisierte Formate nutzen, haben ebenso eine Überlebenschance wie eine beispielsweise nur noch von wenigen Bibliotheken abonnierte Subskriptionszeitschrift; die Sichtbarkeitschancen sind im digitalen Format indes ungleich höher. Außerdem sind die Methoden der digitalen Archivierung wie Emulation, Remediation und Format-Migration bereits weit entwickelt – und werden kontinuierlich eingesetzt und weiterentwickelt, da ein immer größerer Teil der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung primär oder sogar ausschließlich digital vorliegt. Schließlich erleichtern digitale Netze erheblich die Archivierung digitaler Medien durch redundantes Speichern an mehreren physischen Lokationen.

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Der Streit um Open Access ist kein Streit um technische Formate, sondern um Status und verschwindende Disziplinengrenzen. #Siggenthesen #4

Die öffentliche Diskussion um Open Access braucht eine neue Zielgerichtetheit, die Vor- und Nachteile transparent darstellt und statt polemischer Maschinenstürmerei kompetente Akzente setzt. Zeitschriftenkrise, Zukunft der Monographie, unklar werdende Fächergrenzen, bessere Wissenschaftskommunikation etc. dürfen nicht weiter in einen Topf geworfen werden, auch wenn der digitale Medienwandel diese unterschiedlichen Felder affiziert. Wir rufen alle Beteiligten – Befürworter wie Gegner des Open Access – auf, bewusster und sachgerechter zu reflektieren und zu diskutieren. Eine sinnvolle und gestaltende Veränderung gelingt nur, wenn wir anerkennen, dass digitales Publizieren bestehende Hierarchien hinterfragt und eine Umverteilung von symbolischem und ökonomischem Kapital mit sich bringen wird.

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Webmedien wie Blogs, Wikis und andere soziale Medien sind zentral für einen offenen und freien Wissenschaftsdiskurs. #Siggenthesen #5

Digitale Publikationsmöglichkeiten bieten durch ihre bequeme und leicht erlernbare Handhabbarkeit sowie ihren unmittelbar vernetzenden Charakter die Möglichkeit, den Austausch von Informationen im Wissenschaftsdiskurs deutlich zu dynamisieren. So eignen sich beispielsweise Blogs für eine formal strengere Anbindung an bereits bestehende Genres des Wissenschaftsbetriebs, und ergänzen diese zugleich, indem sie (neuen) kleinen Formen, kommentierenden Texten und Konversationen einen Raum bieten. Der unaufwendige Betrieb dieser Medien macht sie zu weniger hierarchiebelasteten Kommunikationsformaten, wobei gleichzeitig auch redaktionelle Schranken zur Qualitätsoptimierung eingezogen werden können. Die prinzipielle Offenheit der Technik schafft einen kommunikativen Freiraum, der sich als Schreibschule im Prozess des wissenschaftlichen Arbeitens anbietet und die bestehende Wissenschaftskommunikation um neue Dimensionen erweitert.

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Transparente Daten und ihre Bewertung ermöglichen andere und neue Formen der Qualitätsmessung in der Wissenschaft. #Siggenthesen #6

Bei der Auswahl von Artikeln für Fachzeitschriften oder bei der Bewertung von Publikationsleistungen beispielsweise in Berufungsverfahren werden meist unterkomplexe Formen der Qualitätsmessung eingesetzt bzw. einfachen Metriken und Kennzahlen zu viel Gewicht beigemessen (wie etwa dem Journal Impact Factor). Auf digitalen Plattformen stehen vielfältige Daten transparent zur Verfügung, die die Qualitäten von Artikeln besser quantifizierbar machen: etwa Aufruf- und Downloadzahlen, Lesedauer, Zahl der Reviews und Kommentare, Bewertungen in Reviews und Kommentaren, Zitationen in wissenschaftlicher Literatur und in Sozialen Medien. Wir schlagen vor, dass solche Nutzungsdaten ebenso öffentlich zugänglich gemacht und genutzt werden können wie die zugrundeliegenden Inhalte. Diese Daten können in spezifischen Bewertungsverfahren zielgerichtet kombiniert und müssen um qualitative Elemente ergänzt werden, um die aus den bisherigen quantitativen Messverfahren bekannte Manipulationsanfälligkeit weitestgehend auszuschließen.

7

In digitalen Publikationen und ihren Versionen können Autorschafts- und Beiträgerrollen genauer differenziert werden. #Siggenthesen #7

In gedruckten wissenschaftlichen Veröffentlichungen wurden verschiedene Autorschafts- und Beiträgerrollen nur ungenau bestimmt: Die Naturwissenschaften kennen die hierarchische Reihung der beteiligten Autorinnen und Autoren, die Geisteswissenschaften trennen im Regelfall zwischen der einen Autorperson und verschiedenen Beitragenden, die in der Danksagung genannt werden. Digitale Publikationen ermöglichen die abschnitts- und versionsgenaue Attribuierung von (Haupt-/Co-) Autorschaften sowie von Beiträgerrollen. Auf diese Weise kann wissenschaftliche Reputation zielgenauer und auf Basis einer Attribuierung auch kleinerer Beiträge, wie zum Beispiel von Kommentaren, transparenter ausgewiesen werden.

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Entscheidungen über die digitale Agenda und ihre Infrastrukturen in der Wissenschaft setzen digitale Expertise voraus. #Siggenthesen #8

In vielen Gremien, die wichtige wissenschaftspolitische Infrastrukturentscheidungen treffen, sitzen unserer Einschätzung nach Akteure, die keine ausreichende medienpraktische und -theoretische Expertise zu Fragen des digitalen Publizierens besitzen. Hochschulen brauchen daher den Mut, Entscheidungen über ihre zukünftigen Infrastrukturen in die Hände digitalaffiner und entsprechend ausgebildeter Personen zu legen. Den digitalen Stillstand in vielen Bereichen unseres Hochschulsystems können und wollen wir uns nicht mehr leisten.

9

Der Erwerb und Einsatz digitaler Kompetenzen ist für die Ausbildung, Lehre und Forschung fundamental. #Siggenthesen #9

Um die Potenziale der digitalen Medien für Arbeits- und Erkenntnisprozesse in der Wissenschaft voll ausschöpfen zu können, ist es wichtig, digitale Kompetenzen auszubilden. Dazu gehören einerseits technische (Code lesen, Programmieren, Algorithmen verstehen) und handwerkliche Aspekte (kollaboratives und vernetztes Arbeiten, Social Reading, Multimedialität), die andererseits aber auch einschlägige analytische und soziale Fertigkeiten (Diskussionskompetenz, Medienkritik, kreatives Denken) grundlegend fördern. Der aktuelle Zustand in der Vermittlung digitaler Grundkenntnisse ist unserer Einschätzung nach an Schulen und Hochschulen – gerade auch im internationalen Vergleich – vollkommen unzureichend. Um das umgehend zu ändern, braucht es eine verbindliche und verpflichtende Ausbildung in allen Bereichen der Wissenschaft und über alle Ausbildungsstufen hinweg – hier müssen gerade auch die Lehrenden lernen.

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Medienkonvergenzprognosen sind immer unsinnig. #Siggenthesen #10

Jede Disziplin hat einzelne zentrale Zeitschriften, die voraussichtlich auch demnächst noch nicht im Open Access veröffentlicht werden. Das ist aber kein Argument gegen den aktuell beobachtbaren Wandel – es werden auch noch Musikkassetten und Schallplattenspieler verkauft. Die Zukunft wird durch die Beteiligten gestaltet, somit beeinflussen wir die Gültigkeit unserer eigenen Prognosen. Da der Gestaltungsprozess grundsätzlich in einem Interessenwiderspruch stattfindet und der Diskurs dazu über weite Strecken von durchsetzungsgetriebener Rhetorik geprägt wird, ist es erforderlich, die eigenen Ziele und Interessen eindeutig und verständlich benennen zu können.

 

Sie können die Thesen unterzeichnen, indem Sie einen Kommentar senden, der hinter dem Satz „Ich schließe mich den #Siggenthesen an:“ Ihren Vornamen, Ihren Nachnamen, Ihren Beruf, Ihre Affiliation und ggf. Ihre Emailadresse aufführt. (Wir übernehmen das dann ins Posting.) Sie können die Thesen kommentieren und kritisieren, indem Sie die Kommentarfunktion nutzen.

Diese Thesen stehen unter der Lizenz CC BY 4.0. Sie entstanden im Rahmen des Programms „Eine Woche Zeit“ zum Thema „Konzepte wissenschaftlichen Publizierens im digitalen Zeitalter“. Die Veranstaltung fand vom 10.-16. Oktober 2016 im Seminarzentrum Gut Siggen statt, wurde organisiert von Klaus Mickus, Dr. Constanze Baum und Dr. Thomas Ernst in Kooperation mit der Alfred Toepfer Stiftung und dem Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. An der Veranstaltung haben Vertreterinnen und Vertreter der folgenden Bereiche teilgenommen: Forschung, Lehre, Bibliotheken und wissenschaftliche Infrastrukturen, Wissenschaftsverlage, Lektorat, Übersetzung, Verlagsberatung, Wissenschaftsblogs, Online-Publikationsplattformen und Online-Zeitschriften.

 

#SiggenthesenautorInnen und ErstunterzeichnerInnen

Dr. Thomas Ernst, Literatur- und Medienwissenschaftler, Universität Duisburg-Essen
Prof. Dr. Eric Steinhauer, Bibliothekar, FernUniversität in Hagen
Dr. Constanze Baum, Germanistin und Redakteurin der ZfdG, Universität Hannover / Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Dr. Anne Baillot, Centre Marc Bloch, Berlin
Dr. Mareike König (Abteilungsleiterin 19. Jahrhundert, Digital Humanities und Bibliotheksleiterin am Deutschen Historischen Institut Paris, Redaktionsleiterin de.hypotheses.org)
Volker Oppmann, Geschäftsführer und Cultural Entrepreneur von log.os, Berlin
Prof. Dr. Alexander Grossmann, HWTK Leipzig, Professor für Verlagsmanagement und Projektmanagement in Medienunternehmen
Dr. Ekkehard Knörer, Kulturwissenschaftler, Redakteur der Zeitschrift Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken
Dr. Michael Kaiser, Leitung von perspectivia.net, dem Publikationsportal der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland, Bonn; Lehrbeauftragter für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität zu Köln
Christina Riesenweber, M.A., Freie Universität Berlin, Center für Digitale Systeme
Klaus Mickus, Berlin/Berkeley, juris GmbH
Ben Kaden, M.A., HU Berlin, DFG-Projekt Future Publications in den Humanities
Friederike Moldenhauer, Dipl. Soz., Lektorin und Übersetzerin, Hamburg
Lambert Heller, Leiter des Open Science Lab der Technischen Informationsbibliothek Hannover
Mirus Fitzner, Universität der Künste Berlin, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikationswissenschaft

Weitere UnterzeichnerInnen

Gregor Hecker, Doktorand an der Abteilung für Rheinische Landesgeschichte, Uni Bonn / Wissenschftliche Hilfskraft in der Redaktion von perspectivia.net, Max Weber Stiftung
Ingrid Scharlau, Professorin für Kognitionspsychologie, Universität Paderborn
Prof. Dr. Martin Haspelmath, Sprachwissenschaftler am MPI-SHH Jena, Mitgründer von Language Science Press
Prof. Dr. Wilfried Wunderlich, Tokai University, Materialwissenschaften
Dr. Sebastian Nordhoff, Koordinator Language Science Press
Dr. Stefanie Rentsch, Leitung der Kommunikations- und Publikationsabteilung des Forum Transregionale Studien, Berlin
Jochen Walter, Bibliothekar, Bibliothek des DLA
Dr. Alexandra Hausstein, Soziologin und Leiterin der Geschäftsstelle des Instituts für Technikzukünfte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Stefan Müller, Institut für deutsche Sprache und Linguistik Humboldt Universität Berlin, ebenfalls Mitgründer von Language Science Press
Claudia Müller-Birn, Professur für Web Science/Human Centered Computing, Institut für Informatik, Freie Universität Berlin
Dr. Sarah-Mai Dang, Film- und Medienwissenschaftlerin, Universität Bayreuth, Gründerin von http://www.oabooks.de/
Dr. Ellen Euler, LL.M. Deutsche Digitale Bibliothek, StV Geschäftsführer Finanzen, Recht, Kommunikation. Leiterin Recht und öffentliche Angelegenheiten
Günter Thiele, Medienpädagoge, GMK-Projektbüro Berlin
Gerald Langhanke, Bibliotheksreferent, ULB Darmstadt
Prof. Dr. Michael Wildt, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Martina Sauer


 

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